Nach dem ersten Jahr

Nach dem ersten Jahr - Meerfoto

Nun ist das erste Trauerjahr nach Papas Tod vorüber. Es ist ja ein ganz besonderes, dieses erste Jahr. Alles geschieht zum ersten Mal ohne ihn, ohne einem Treffen, ohne einem Anruf, ohne einem sorglosen “bis zum nächsten Mal“, ohne “ruf wieder einmal an“. Irgendwann geht plötzlich alles wie gewohnt weiter und doch ist nichts mehr, wie es war.

Geburtstage traut man sich kaum zu feiern, vor Weihnachten fürchtet man sich und der Höhepunkt ist der Jahrestag, jener Tag, an dem sich die Tatsache jährt, dass dieser Mensch für immer gegangen ist. Ich wusste bis dahin nicht – und ich habe ein schlechtes Erinnerungsvermögen – dass Erinnerungen so frisch und glasklar sein können. All das, was vor einem Jahr passiert ist, ist plötzlich wieder bis ins Detail gegenwärtig. Als wäre es gestern gewesen, sieht man den Verstorbenen in seiner vollen Lebenskraft, dann leidend, dann sterbend. Man sieht sich selbst noch unbeschwert mit ihm, dann voller Sorge, dann in Panik, Schock und Trauer. Man fühlt alles noch einmal, mit voller Macht.

Natürlich lässt man sich nichts anmerken. Für die anderen ist das Thema weit weg und längst vom Tisch. Aber immer wieder gibt es ein paar Goldstücke, ein paar Aufmerksame, ein paar, die meist selbst Verluste hinter sich haben, die einem Verständnis entgegenbringen, die nachfragen, die drandenken. Denn im ersten Trauerjahr, da hat die Trauer auch nach außen noch etwas Berechtigung. Da darf sie sein, zumindest ein bisschen. Aber nun, da dieses Jahr vorüber ist, wird jetzt auch meine Trauer kleiner? Werde ich weniger an meine Eltern denken? Wird die Erinnerung verblassen? Oder noch schlimmer, werden ihre Gesichter verblassen? Werde ich sie mir eines Tages vor meinem inneren Auge gar nicht mehr vorstellen können, so wie ich manche Menschen vergessen habe, die ich ewig nicht mehr zu Gesicht bekommen habe? Werde ich eines Tages gar nicht mehr weinen? Wird es eines Tages ein normaler Gedanke sein, dass meine Eltern tot sind? So ein Gedanke, dem kein Gefühl nachfolgt?? Wird mich jemals noch jemand fragen, wie es mir geht, am Sterbetag?

Ich darf meine Trauer nicht verlieren. Ich brauche sie. Ich brauche sie, um mit meinen Eltern verbunden zu sein. Ich brauche sie, um sie beide spüren zu können. Es muss mir einen Stich geben, bei dem Gedanken, dass sie nicht mehr sind. Es kann nicht ein normaler 0815 Gedanke sein, niemals. Aber wenn doch? Und ich aus diesen letzten beiden Trauerjahren als derselbe Mensch hervorgehe, der ich vorher war? Der arbeitet und seine Pflichten erledigt. Der für seine Familie da ist, der alle versorgt und dann manchmal raus muss. Der angepasst durchs Leben geht?

Nach dem ersten Jahr bin ich ein Wochenende am MeerEin Wochenende am Meer zeigt mir, dass ich mich nicht an diese Fragen, nicht an meine Trauer klammern muss. Als ich bald nach der Ankunft auf den Ozean hinausblicke, bin ich euphorisch, wie immer, wenn ich am Meer bin, aber diesmal auch seltsam ruhig und erfüllt. Niemals war das Meer schöner, niemals war es weiter, niemals war es blauer, niemals war es bewegender als hier. Und eine leise Ahnung sagt mir, dass dies möglicherweise gar nicht an der Côte d’Azur liegt, sondern vielleicht an mir.

Als mir ein französisches Brautpaar strahlend im hupenden Cabrio begegnet, beide in aufgekratzter Stimmung, voll freudiger Erwartung und der klaren Gewissheit im Blick, dass nichts und niemand sie trennen kann, dass alles so bleiben würde wie genau jetzt an diesem strahlend sonnigen Samstag im April und mein Herz hüpft und ich plötzlich Tränen der Rührung in den Augen habe, wird es mir klarer.

Und als ich in eine französische Messe gerate, weil ich den Orgelklängen gefolgt bin, ihnen folgen musste und mir beim “Halleluja“ und dem Anblick der brennenden Kerzen für die Verstorbenen, die in jeder Kirche zu finden sind, nun endgültig Tränen in die Augen schießen, Tränen der Trauer, ja, aber auch Tränen der Dankbarkeit ob dieses sagenhaft schönen, umwerfenden Moments in einem Gotteshaus, in dem ich kein Wort verstehe, außer „Halleluja“, in dem jedoch dieselbe Energie und Vertrautheit schwingt, wie in meiner Heimatkirche, in der ich meine Eltern am stärksten spüre, weiß ich: Ich bin nicht mehr die, die ich war. Ich empfinde tiefer, ich spüre mehr. Ich bin dankbarer, ich bin demütiger. Ich fühle mich mit Menschen verbunden, die ich gar nicht kenne. Ich erlebe Dinge bewusster. Ich genieße Augenblicke, die mir zuvor nichts bedeutet hätten. Ich achte mehr auf mich. Ich nehme mir notwendige Auszeiten, ich weiß, wann ich innehalten muss. Ich folge meiner Intuition und sie ist stärker als je zuvor. Es ist mir klarer geworden, dass alles einen Anfang und ein Ende hat. Und dass das Ende dort ist, wo wir uns nicht mehr vorstellen müssen, dass wir alle eins sind, sondern es einfach sind.

Meine Trauer, sie wird anders werden, vielleicht. Aber meine Erinnerungen werden nicht verblassen. Ich werde sie hüten wie einen Schatz und ich werde wie in Nizza, zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort auch fernab der Heimat das Wunderbare spüren können: Die Verbundenheit zu jenen, die nicht mehr sind, die Verbundenheit zu jenen, die mir gegenüberstehen und das paradiesische Gefühl des Einsseins mit mir.

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2 Kommentare

  1. Es ist echt spannend, überwältigend: in dem letzten Tagen hab ich deinen Papa wieder wahrgenommen😊😊 und ich hab das Gefühl, dass er mir sehr viel hilft, diese echt gaaaanz anstrengende Zeit jetzt in der Arbeit wieder gut zu bewältigen😊😊

  2. Danke Gabi ich bin auch überwältigt! Seine Energie ist überall! Danke fürs Mitteilen, ich wünsch dir alles alles Gute für diese hektische Zeit! Du schaffst das!

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