Ich glaube, dass unsere tiefsten Tiefen zu unserem größten Gewinn werden können. Dass die schlimmsten Erlebnisse sich zugleich als höchste Wachstumschance entpuppen können. Ich beobachte dies immer wieder – und am deutlichsten an mir selbst. Denn ohne den Tod meiner Eltern hätte ich mich dem Schreiben wahrscheinlich nicht in so einem Ausmaß zugewandt, hätte nicht erkannt, dass es das ist, was mein Herz zum Springen bringt.
Ich wäre entsetzt gewesen, hätte ich mich vor drei Jahren diese Sätze schreiben sehen. Damals, als ich zu spät gekommen war, um meine Mutter das letzte Mal atmen zu sehen, genau um 15 Minuten zu spät. Als ich meinen Vater das erste und einzige Mal in seinem Leben weinen sah. Als der Kaugummi, den ich vor dem Wegfahren in den Mund gesteckt hatte, um den Zwiebelgeschmack von der Fonduesoße am Vorabend zu übertünchen, bei meinem Aufschrei auf die tote Schulter meiner Mutter fiel und dort liegen blieb, bis sie für den Sarg umgezogen wurde. Als ich zwei Tage lang durchweinte, sodass mir die Augen brannten und der Kopf hämmerte.
Es dauerte lange, bis ich mich von dem Schock erholte. Ich heulte bei Arztbesuchen und in Apotheken, wo ich mir Notfallstropfen besorgte, gänzlich ohne Vorwarnung. Ich musste weinen, wenn ich die Worte „Mutter“ und „gestorben“ in einem Satz sagte, die in meinem Kopf so gar keinen Sinn ergaben. Ich musste weinen, wenn ich mich oder meine Tochter im Spiegel sah.
Ein Jahr später folgte mein Vater nach und die Prozedur ging von vorne los. Auch wenn es anders war, ich anfangs stärker zu sein schien als beim Tod meiner Mutter, ich Organisatorisches übernahm und wie von Zauberhand gelenkt plötzlich wusste, was zu tun war, durchlebte ich tiefdunkle Tage, Wochen, Monate.
Doch in derselben Nacht, als mein Vater ging, passierte etwas. Ich konnte nicht einschlafen, unbändige Gedanken spukten durch meinen Kopf, paarten sich mit liebevollen, dankbaren. Hellwach lag ich in meinem Bett, während mich mein Mann und meine Tochter mit ihrem gleichmäßigen Atem beruhigen wollten und mich staunend auf das, was sich in meinem Inneren abspielte, blicken ließen.
Es war schön, das was ich sah. Es war das Schönste überhaupt. Ich war so vollgefüllt mit Liebe und Dankbarkeit wie noch nie zuvor. Mein Herz war groß und weit und plötzlich kamen da Wortfetzen, Worte, die sich vervollständigten, zu ganzen Sätzen formten und in einem nicht mehr zu haltenden Guss aus mir herausdrängten. Sie ließen mich meinen Laptop aufklappen. Sie schrieben sich hinein. Sie luden das letzte Foto von meinem Papa und mir hoch, dasjenige, das ich am Tag vor seiner Operation, die er nicht überlebt hatte, gemacht hatte, das erste und letzte Selfie mit ihm auf dem wir lachten, als würden wir dies noch oft miteinander tun.
Neben dem Foto erschien plötzlich ein Schwall an Dankesworten. Dankesworte an ihn, meinen Vater, der heute gestorben war, ich dürfte sie geschrieben haben. Dankesworte an jeden Menschen, dem ich heute begegnet war, an jeden, der sich an diesem besonderen Tag so liebevoll, rücksichtsvoll, so umsichtig, so wunderbar um mich gekümmert hatte, dass an diesem schrecklichen Tag mein Herz zum Bersten voll war.
Ich drückte auf Senden. Meine Perfektionisten-Stimme schwieg heute. Meine „Es-gibt-schon-genug-Texte-dieser-Art“-Stimme sagte nichts. Meine „Du-solltest-nicht-solche-intime-Gedanken-preisgeben“-Stimme war stumm. Es machte nichts, was nun mit diesen Zeilen weiter geschehen würde. Sie waren dort, wo sie sein mussten: draußen, im Universum, bei meinem Papa. Der Bann war gebrochen – der Grundstock für meinen Blog gelegt.
6 Kommentare
Das einzige Mal, dass ich etwas im mir hatte, was geschrieben heraus musste, war beim Tod deines Papas. Bei mir ist dieser Brief an dich /euch auch tage- und nächtelang herumgeschwirrt, bis ich ihn einfach niedergeschrieben und für euch eingepackt habe. Ist mir seitdem nie wieder so gegangen. Spannend…
Dieser wunderbare Brief…danke! Liegt es wohl am Papa, der Schreibflüsse freilegt…!?
Liebe Gabi,
danke für deine Zeilen, in denen du mich an etwas Tröstliches erinnerst: dass aus allem Schweren etwas Gutes werden kann und – so glaube und hoffe ich – dass auch der größte Verlust in eine neue Gabe verwandelt wird. Gerade der Verlust eines lieben Menschen durch den Tod ist durch nichts zu erklären oder gut zu machen… und doch kann er uns in eine neue Weite, in eine neues Sehen führen, das unser früheres Fassungsvermögen sprengt, in eine große Dankbarkeit, wie du so schön schreibst – das wünsche ich allen Niedergedrückten. (Wie heute im Evangelium: „Selig, die Trauernden – denn sie werden getröstet werden!“ – Ein Hoffnungs-Perspektive und Ermutigung! Danke dir, und alles Liebe, Georg
Danke für deine wie immer wundervollen Worte, Georg!!
Danke, Gabi, für deine berührenden Worte. Wie reich wir doch sind trotz allen Leids auf der Welt! Es bleibt wirklich nur, immer wieder Danke zu sagen….
Ich danke dir Beate!! Ja, es ist schön, wenn die Dankbarkeit immer wieder zum Vorschein kommt – aber wir könnten es bestimmt noch viel öfters sein! Alles Gute euch!!