Was ist deine tiefste Sehnsucht?

Was ist deine tiefste Sehnsucht - Rote Tulpe bricht durch den Schnee - Hope and Shine

Zieht es dich zu einem Menschen, bei dem du nicht sein kannst? Vielleicht weil er dir seine Liebe verwehrt, zu weit weg ist oder bereits verstorben ist? Zieht es dich in die Ferne, an einen unbestimmten Ort, an dem du dir vorstellst, viel freier sein zu können als hier oder an einen bestimmten Platz aus Jugend- oder Kindheitstagen? Oder sehnst du dich einfach nach Wärme im Winter und Rückzug, wenn es hektisch ist?

Möglicherweise trägst auch du eine unbewusste Sehnsucht in dir. Im Trubel des Alltags jedoch lassen wir diese selten an die Oberfläche. So liegt sie unbemerkt, verschüttet unter einem Haufen Alltagskram und produziert zuweilen ein nicht zuordenbares, unangenehmes Gefühl in uns. Wir sind traurig und wissen nicht warum, bekümmert oder einfach schlecht gelaunt. In einem Seminar höre ich von einem befreienden Lösungsansatz: Sich seiner tiefsten Sehnsucht zu stellen und im besten Fall mit ihr in Kontakt zu treten, kann ganz vieles in uns heilen.

Im Augenkontakt mit einer zweiten Person könne sich die Abhängigkeit von einer Sehnsucht lösen, so der Seminarleiter. Der Schmerz, der hinter jeder Sehnsucht steckt, könne gestillt werden – wenn man sich diese bewusst macht.

Gras im Winter scheint im Sonnenlicht - Was ist deine tiefste SehnsuchtWährend ich verzweifelt grüble, was wohl meine Antwort auf diese Frage sein könnte und wie es sein würde, etwas derart Intimes einem wildfremden Menschen anzuvertrauen, spricht mich eine sympathische Dame an, ob ich mit ihr die angeleitete Übung machen möchte. Ich nicke abwesend, zu sehr beschäftigt mit der Suche nach der Antwort und der Angst, sie nicht finden zu können in dem Augenblick, in dem ich sie parat haben soll, sie mir möglicherweise nicht einfallen und ich blöd dastehen könnte, so wie ich öfter Angst habe, blöd dazustehen.

Doch noch bevor die Stille, die den Start dieser siebenminütigen Übung einleitet, sich über den Saal senkt, schießen mir Tränen in die Augen und mir wird klar, so klar, wie es klarer gar nicht sein kann, dass ich mich am meisten nach meiner verstorbenen Mutter sehne und dass diese Sehnsucht noch immer so intensiv ist, wie ich es beileibe nicht vermutet habe, sie eine bis dato nicht bewusste Dimension einnimmt, die ich anscheinend Tag für Tag mit mir herumtrage und die nur auf einen Moment wie diesen gewartet hatte, um endlich aus mir herausbrechen und sich befreien zu dürfen.

Und so heule ich mein Gegenüber an und zu meiner Überraschung weint auch sie, mein Elend augenscheinlich erkennend. Ihre Tränen und ihr ungebrochener Blickkontakt spornen mich an, mich fallen zu lassen, sie motivieren mich, mich dieser Sehnsucht hemmungslos hinzugeben und diesen Gefühlsorkan ordentlich zu durchleben.

Nachdem ich wieder gefasst und mit einer inneren Ordnung ausgestattet im Alltag angekommen bin, sucht mich eine seltsame Ruhe heim. Ich bin gereinigt wie nach einem heftigen Regenguss, erleichtert wie nach einem Sommergewitter, befreit, als hätte ein starker Sturm eine dicke Staubschicht weggefegt.

Bäume stehen in sonniger Schneelandschaft - Was ist deine tiefste Sehnsucht

Und auch wenn diese Sehnsucht nun nicht wie durch ein Wunder für immer fernbleibt, spüre ich noch Wochen später die Wirkung dieser Übung. Ich erkenne, dass ich mir erlauben muss, meinem Verlangen zwischen Alltagspflicht und Normalität einen Platz zu schaffen. Ich begreife, dass ich auch verschütteten Gefühlen Raum geben, ihnen auf den Grund gehen muss, indem ich mir wieder und wieder die Frage nach meinen tiefsten Sehnsüchten stelle.

Da die Kontaktübung vom Seminar nicht so einfach nachzustellen ist, weil es sich als viel schwieriger darstellt, seine intimsten Sehnsüchte mit vertrauten Menschen zu teilen, versuche ich, mir meine jeweilige Tagessehnsucht bewusst zu machen, indem ich sie aufschreibe. Krampfhaft denke ich oft nach, welche Sehnsucht es heute sein könnte, die sich hinter einem Pulk an vorgeschobenen Gefühlen verbirgt. Manchmal muss ich geduldig sein, bis sie sich zeigt. Wenn ich sie jedoch aufspüre, indem ich darauf los schreibe, mir alles, was hochkommt, von der Seele kritzle, bis ich an den Kern vorgedrungen bin, wenn ich sie dann benennen kann und geschrieben vor mir sehe, merke ich, wie sich Weichheit einstellt, Klarheit.

Ich entdecke im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von Sehnsüchten. Die nach grenzenloser Harmonie auf allen Ebenen, jene nach einem Teil von mir, der sich verstecken und gleichzeitig gesehen werden will und dann wieder jene nach einer Welt ohne Leistungsdruck und Statistiken. Das Erkennen meiner Empfindung, das Ertappen dieses zuunterst liegenden Gefühls allein reicht für eine hochgradige Verbesserung meines Gemütszustandes.

So bleibe ich dran. Gehe jeder Empfindung auf die Spur. Kritzle ganze Bücher voll. Grabe mich Schicht um Schicht durch. Denn in nicht allzu weiter Ferne, da sehe ich mich gehen. Unbeschwert, ohne Gepäck, entlang eines geebneten Weges. Mit blühenden Blumen am Wegesrand. Umsäumt von Dächern, von denen sorglos die Spatzen pfeifen. Munter summe ich ein Lied. Entspannt sind meine Züge, meine Sorgenfalten straff geglättet. Nichts scheint mich zu belasten, nichts zu bedrücken. Nichts zieht mich irgendwohin. Zielstrebig sehe ich aus, tonangebend, Kapitänin meiner selbst. Ich gehe ihn bestimmt, diesen Weg. Gleich dahinter, ein heller Schatten: Meine Sehnsucht – sie folgt nun mir.

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6 Kommentare

  1. Oh wie schön! Das ist die ganze Geschichte, die du mir erzählt hast, nun noch viel tiefer und klarer! Besonders der letzte Absatz hat mich geflasht, es ist nicht nur der Inhalt, auch die damit verbundene Zuversicht und Leichtigkeit macht einem den Tag heller! Und dein Schreibstil sowieso!

  2. Liebe Gabi, mit dem Text sprichst du etwas an, das sehr menschlich ist; ich glaube, dass alle Menschen Sehnsüchte in sich tragen, vielleicht oft schon sehr verschüttet. Du machst mir Mut, mich ganz bewusst mit meiner Tiefe zu beschäftigen, sie ins Wort und in Gestalt zu bringen… Dein Text ist auch eine Anregung, Leuten in Begegnungen bewusst und Offen den Augenkontakt anzubieten… Danke! Georg

    1. Lieber Georg, vielen lieben Dank! Das mit dem Augenkontakt anbieten ist eine wunderbare Idee, die ich auch beherzigen werde! Danke!

  3. Liebe Gabriele, sehr berührend und offen geschrieben!
    Ein grippaler Infekt zwingt mich gerade zum Innehalten. Und schenkt mit Zeit zum Lesen…
    Und nachzudenken über meine Sehnsucht…
    Liebe Grüße Gabriele

    1. Oh vielen Dank! Ich hoffe, du bist bald wieder fit und kannst die Zeit für dich auch ein bisschen genießen! Ich kann mir eine tiefe Sehnsucht von dir vorstellen… Alles Liebe!

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