Ein neues Gefühl

3 Bäume in der nebeligen Winterlandschaft erzählen über ein neues Gefühl

Es begann schon etwas fragwürdig, dieses Fest. Bereits Tage davor stellte sich eine zweifelhafte Harmonie ein, das Kind kam ungewohnt schnell allen Aufgaben nach, die man ihm übertrug, erschien merkwürdig ausgeglichen und steckte einen an mit seinem ungestümen Herumgehüpfe, mit dem Aufgeregtsein, mit dem Neugierigsein, mit dem Sich-Freuen auf diesen besonderen Tag, der, so denkt man, doch nur für Kinder diesen besonderen Zauber zu haben hat.

Aber, so stellt man plötzlich überrascht fest, er hat die ganzen Jahre hindurch nichts an Magie eingebüßt, man ist selber wieder so aufgeregt wie ein Kind. Vorfreudig nestelt man an den letzten Vorbereitungen herum, um dann gerührt vor diesem Baum zu stehen, der mit demselben Christbaumschmuck wie all die Jahre zuvor behangen wurde, von dem derselbe Duft nach Tannennadeln, Wunderkerzen und Süßigkeiten ausgeht wie immer, es gibt nichts Neues und Ungewöhnliches zu sehen an diesem Baum, die Kontur ist die einzige alljährliche Veränderung an ihm, ansonsten scheint alles wie sonst auch – und trotzdem übermannt einen das Besondere, das Außergewöhnliche dieses Tages, das kein Festtag im Jahr toppen kann, in diesem Moment, in diesen Düften, in dieser Dunkelheit durchbrochen nur durch Kerzenlicht. Und plötzlich weiß man, dieser Tag wird immer seinen Zauber haben, er wird ihn nicht verlieren, keines Jahres wird er einem egal sein, dieser eine Tag im Jahr, der nur wie ein Teil des Tages heißt, dieser heilige Abend.

Doch inmitten in diesem fast perfekten Weihnachtstaumel, in dem ich mich schon frage, wo sie bleibt, die kleine Krise, das Skandälchen, streife ich an Schicksale, die gänzlich unperfekt sind. Ich treffe auf Menschen, die alleine sind an diesem Tag aller Tage, die es schon immer waren, es ist nichts Neues für sie, aber ich, ich blicke betreten zu Boden bei dem Gedanken, alleine sein zu müssen, für mich wäre es abnormal, eine Katastrophe, mit der ich nicht umzugehen wüsste.

Ein Baum steht allein im Schnee - ein neues Gefühl

Ich begegne Menschen, die jemanden verloren haben, jemanden wichtigen, nahen, einen Ehepartner oder einen Elternteil, Menschen, die Verluste oder Trennungen hinter sich haben und zum ersten Mal allein vor diesem geschmückten Baum stehen. Jene, für die dieser Baum heuer keinen Zauber ausstrahlt und keinen Trost, ganz im Gegenteil, er streicht die Einsamkeit nur heraus, markiert sie mit rotem Stift und dicken Rufzeichen und schlägt sie einem ins tränennasse Gesicht.

Ich statte Besuche ab, verteile verlegen Geschenke, bin kleinlaut, werde stumm. Mein Übermut weicht, etwas anderes macht sich breit. Es ist zart und still. Es schreit nicht, es hüpft nicht. Es ist sich seines Glückes nicht sicher, es weiß, dass immer etwas sein kann, dass das Leben nie linear verläuft und immer für Überraschungen gut ist. Es weiß mehr denn je, dass man den Augenblick zu schätzen hat, vor allem all die Augenblicke vor, während und nach einem großen Fest wie diesem. Es weiß, dass Gefühle wie Übermut und Stolz keine Beständigkeit haben in dieser Welt, in der sich ständig etwas verändert, in der immer etwas ist. In dieser Welt, die ständig in Bewegung ist und Dinge macht, die wir oft nicht verstehen.

Mein neues Gefühl schwirrt unruhig in mir her, es sucht und weiß nicht, wo es seinen Platz einnehmen wird. Es will glücklich sein und trotzdem die Trauer sehen. Es will bei sich bleiben und dennoch über den Tellerrand blicken. Es will laut auflachen und gleichzeitig stillsitzen. Es will bescheiden sein und trotzdem Party machen. Es will klein sein und ist doch so groß.

Mein neues Gefühl und ich blicken in das FriedenslichtIch heiße es willkommen, ich möchte, dass es bleibt. Zaghaft nistet es sich ein. Zwischen Lebkuchen und Zimtparfait bereite ich ihm einen besonderen Platz. Im hauseigenen Glück und Trubel blicken wir beide ins Friedenslicht, verschicken möglichst gute Energien dorthin, wo Unglück und Traurigkeit ist. Dorthin, wo wir einen kleinen Blick hinein erhascht haben in ein Tal voll Kummer und Sorge und dorthin, wo wir noch nicht waren.

Seite an Seite gehen wir durch die Tage. Sie ist mir eine liebevolle Begleiterin geworden. Sie gibt mir Hoffnung, mit allem umzugehen, das auf mich zukommt. Alles, das mich betreffen wird – wenn nicht an mir, dann am anderen. Am Nachbarn, an der Freundin, an jemandem, den ich kenne.

Sie stützt mich, sie hält mich. Sie nimmt an, was kommt: meine demütige Dankbarkeit.

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