Du, Mama, sagt sie, eine Lehrerin habe heute in der Schule geweint. Es ist kurz vor dem Einschlafen und eigentlich sollte ich nicht mehr auf ihre hundert Fragen und Bemerkungen eingehen, mit denen sie den Schlaf gern hinauszögert. Aber ich bin plötzlich hellwach. Die Lehrerin mache sich solche Sorgen wegen dem allem, murmelt mein Kind noch, kurz bevor es wegdämmert.
Während ich überlege, was genau der Kern ihrer Sorge ist, ob sie wohl Angehörige in der Risikogruppe hat oder ob die Ratlosigkeit, wie es wohl weitergehen mag in dieser für uns alle völlig neuartigen Situation, an ihr nagt, bemerke ich, dass auch in mir Tränen hochsteigen. Die Tatsache, dass man nun öffentlich weinen darf, dass man sich nicht mehr quälen muss, eine Stärke vorzugaukeln, die derzeit einfach nicht vorhanden ist, sich zu offenbaren mit dem wundesten Punkt, mit der eigenen Verletzlichkeit, berührt mich sehr.
Ich würde sie am liebsten spät abends anrufen, diese wunderbare Lehrerin, all die Ängste, die ihr im Zuge dieser besonderen Lage zu schaffen machen, mit ihr besprechen. Ich würde sie ihr gerne abnehmen, sie entkräften, so gut es geht. Gleich liebe ich sie noch mehr für diesen ihren Mut, jetzt nicht die Starke spielen zu müssen. Für ihre Stärke, sich verwundbar zu zeigen.
Vielleicht schafft es das Coronavirus ja, einen Bann zu brechen. Vielleicht wirft es unser aller Coolness, unsere äußere Fassade ab und gibt uns nun endlich die ersehnte Erlaubnis, uns als verletzbare, verwundbare Wesen zu zeigen. Vielleicht lernen wir, sehr viel offener unsere verborgensten Sorgen und Ängste zuzugeben. Vielleicht enden nun nie wieder Gespräche mit danke, mir geht es gut, sondern bohren sich tiefer bis auf den wahren Grund. Vielleicht trauen wir uns nun, auch nicht vertrauten Menschen unsere verschwiegensten Gedanken anzuvertrauen. Vielleicht ergeben sich ab jetzt tiefe, bereichernde Gespräche mit Unbekannten und schaffen eine noch nie dagewesene Verbundenheit.
Vielleicht ist es nun nicht mehr wichtig, was wir sind, sondern wer wir sind. Vielleicht brauchen wir es nie mehr mit aufgesetzter, guter Laune übertünchen, wenn es uns gerade nicht gut geht. Vielleicht fällt alles, was wir verkrampft sein wollen, nun von uns ab. Vielleicht hören wir nun damit auf, stets gut dastehen zu wollen. Vielleicht gibt uns diese Krisenzeit nun die Erlaubnis, uns zu entblößen, ohne uns nackt zu fühlen. Vielleicht erteilt sie uns einen Freibrief, uns zu zeigen in unserer ganzen Gefühlspalette. Mit all den hellen Seiten und all jenen, die wir als dunkel einstufen, wiewohl sie zu jedem von uns doch genauso wie sie sind dazugehören. Vielleicht gelangen wir wesentlich näher an unseren wahren Kern, als wir es jemals waren. Vielleicht wird es nun populär, verwundbar sein zu können, anstatt lässig und cool.
Vielleicht gibt uns das Coronavirus die Freiheit, vollends der zu sein, der wir wirklich sind – bis zur letzten Konsequenz.
Ein Kommentar
Eine wundervolle Vorstellung, die auch ich sehr wünschenswert finden würde. Jedoch glaube ich nicht daran, da der Mensch ein sehr berechnendes Wesen besitzt (jede Schwäche des Anderen wird zum Eigennutz verwendet).
Ich persönlich hasse es ständig eine Maske (damit meine ich nicht den Mundschutz) tragen zu müssen, um meine Seele vor Angriffen meiner Mitmenschen zu schützen. Auch in Zeiten von Corona sind viele (nicht alle, es gibt auch reichlich, selbstlos Helfende und liebe Menschen) unserer Mitmenschen noch immer sich selbst am Nächsten. Ich verurteile es nicht. Der Mensch ist, wie er ist. Jedoch bin ich mir bewusst, mich dadurch nie Fremden gegenüber voll öffnen zu können. Ich denke, so werden es die Meisten empfinden. Nur wenn der Druck, das Leid, die Sorge all zu stark wird, werden wir hier und da Einblicke gewähren.
Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Vielleicht bringt uns die Pandemie ja doch endlich zum Umdenken.
In diesem Sinne wünsche ich allen, das Allerbeste.