Bin ich frei, wenn ich frei habe? Wenn ich das Glück habe, wochenlang ohne Weckerläuten aufwachen zu dürfen und zwar genau dann, wenn die Dosis Schlaf, die ich abbekommen habe, für meinen Organismus reicht? Bin ich frei, wenn ich nach Herzenslust Bücher lesen kann, so wie ich es mir immer gewünscht habe, alle, die auf meiner Liste stehen durchackere, bis mir die Buchstaben vor den Augen verschwimmen? Bin ich frei, wenn ich alle Abende durchwegs im dünnsten Sommerkleid verbringen kann, ohne zu frieren, obwohl es nicht unüblich ist, dass es mich auch im Sommer fröstelt? Bin ich frei, wenn ich nächtens aus einer Laune heraus ein Eis esse, sogar eins mit vielen Kalorien, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, obwohl ich normalerweise selbst an heißen Tagen vorsichtig abwäge, ob dieses Eis nun wirklich unerlässlich ist? Bin ich frei, wenn ich mit meinem Kind Hand in Hand ins Wasser springe, ohne mir die Nase zuzuhalten? Bin ich frei, wenn ich im Lotussitz über die Weite des Meeres blicke so wie in all den Yoga-Videos, die ich mir daheim sehnsüchtig angesehen habe? Bin ich frei, wenn ich mich über die lähmende WLAN-Verbindung freue, anstatt betrübt zu sein, weil das mit dem Handyfasten vielleicht doch noch was wird? Bin ich frei, wenn ich das laute Zikadengeschnatter, das mich nachts oft weckt, liebgewonnen habe?
Oder bin ich frei, wenn ich es geschafft habe, meinen herumflatternden Gedanken nachsichtig zuzulächeln und sie sein zu lassen? Bin ich frei, wenn ich jenen Feriengästen verzeihe, die nie den Duschhahn ordentlich zudrehen, sodass ständig Wasser nachtropft, jenen, die nicht achtsam mit dem Essen umgehen und Berge davon zurückschicken? Bin ich frei, wenn ich über mein Gehopse über die spitzen Steine als Folge des ständigen Vergessens, mir Flipflops anzuziehen, lachen muss, anstatt mich über das Gepikse zu ärgern? Bin ich frei, wenn ich grinsen muss, als ich entdecke, dass der vereinbarte Süßigkeitenvorrat meines Kindes für die ganze Woche bereits am Dienstag zur Neige gegangen ist? Bin ich frei, wenn ich einen Text, der mir nicht perfekt genug erscheint, schlichtweg vergesse, anstatt daran herumzutüfteln? Bin ich frei, wenn ich mich ungeschminkt im Spiegel betrachte und es aushalte, ohne dass sich Entsetzen breitmacht?
Ein Gefühl der Freiheit entdecke ich am ehesten in mir, wenn ich allem mit einem liebevollen Blick begegne. All jenen, auf die ich treffe, jedem Ding, das mir den Weg kreuzt. Ein Gefühl der Freiheit entdecke ich, wenn ich Vorurteile und Ablehnung ablege und anderen vergebe. Wenn ich versuche, jeden sein zu lassen, wie er ist. Wenn ich offen bleibe und trotz Gegensätzlichkeiten Gemeinsamkeiten finde. Ein Gefühl der Freiheit entdecke ich, wenn ich milde und nachsichtig bin mit anderen, aber vor allem und ganz besonders mit mir selbst. Wenn ich gut zu mir bin und mir wohlgesonnen. Wenn ich mich nicht verurteile, mir keine Schuld zuweise. Wenn ich mir selbst verzeihe. Wenn ich mir erlaube, Fehler zu machen. Wenn ich mit mir so nachsichtig bin, wie ich nur nachsichtig sein kann. Wenn ich mich annehme, wie ich bin. Mit allen Unzulänglichkeiten und allen Vorzügen. Mit allen alten Glaubensmustern und neuen Denkweisen. Mit allem, was ich kann und allem, was ich nicht kann und vielleicht auch nie können werde. Mit allen Gewohnheiten und Eigenheiten. Mit allem, was ich denke und empfinde. Mit allem Unvermögen und allen Fähigkeiten. Mit allem, was man außen sieht und was ich innen bin. Mit allem Unfertigen und allem Gereiften. Mit allem Unperfekten und allem, was gut ist.
Wenn ich immer wieder milde mit mir bin, kann ich stressfrei gedeihen und werden. Mühelos blühen und wachsen. Leicht mich entfalten und entwickeln. Größer und größer werden. Neues ausprobieren, es mir zutrauen. Unbekanntes wagen, vielleicht sogar über mich hinauswachsen in der sicheren Gewissheit, dass ich eines immer sein kann: die beste Version von mir selbst.
2 Kommentare
Liebe Gabi, du schreibst mir aus dem Herzen, lg Erika
Liebe Erika, so schön, danke für deinen lieben Kommentar, ich freu mich irrsinnig von dir zu hören!!