Wie ich mich in das Jetzt verliebte

Schreiben am Laptop - Leben im Hier und Jetzt

Ich habe mich an das neue Leben gewöhnt. Das Arbeiten zuhause wird routinierter. Das außerschulische Lernen bekommt schön langsam Strukturen. Phasen des Aus-der-Haut-Fahrens wechseln mit Phasen noch nie dagewesener Entspannung. Phasen von ungewöhnlicher Gedankentiefe weichen der Erwartungslosigkeit. Die Sehnsucht nach Menschen und Abwechslung, nach mehr Leben im Haus, nach gehaltvollen Gesprächen face to face, nach sorglosen Blödeleien und spontanem Scherzen, nach Situationskomik, die kein digitales Medium herbeizuführen vermag, die nur in der realen Welt erlebt werden kann, steigt. Die Tatsache, wieder ein Buchgeschäft betreten zu dürfen, von Regal zu Regal zu streifen, in unterschiedlichsten Exemplaren zu schmökern, sie in meinen desinfizierten Händen zu halten, ist ein erwartetes Highlight. Ich erdulde nachsichtig das Fernbleiben des köstlichen Geruches, dieser herrlich einzigartigen Duftnote, die nur ein frisch gedrucktes, neu entpacktes Buch zu verströmen vermag, jedoch aufgrund von Nasen-Mundschutz-Maske diesmal nicht wahrgenommen werden kann.

alte Fotos - wie geht Leben im Hier und JetztIch bin nachsichtig geworden, ich erwarte wenig. Ich beginne meine Gedanken zu stoppen, wenn sie im Geiste anfangen, Zukunftspläne zu schmieden. Die Dinge ändern sich häufig, es könnte alles anders kommen als geplant. Ich blicke auf Fotos aus den letzten Jahren, verwundert darüber, wie vollgestopft sie sind mit Erlebnissen und Menschen, erstaunt über die Verschiedenartigkeit der Orte, an denen sie aufgenommen wurden, über die Fülle der Erfahrungen, Woche um Woche, Monat um Monat.

Derselbe Zeitraum heuer wird im Nachhinein betrachtet anders aussehen. Ich bin ahnungslos, auf welche Art der Bilder ich im nächsten Jahr zurückblicken werde. Wird es bei Familienfotos bleiben oder wird in unserem Haus die bunte Vielfalt an Gästen wieder einkehren? Werde ich auf einem oder sogar mehreren Gruppenfotos zu finden sein?

Oh. Ich höre ja auf mit Zukunftsplänen und Fantasien. Mir fällt ein, dass ich nun endlich praktizieren kann, was alle immer predigen, worum es eigentlich geht, worauf wir alle hinauswollen: dieses Leben im Hier und Jetzt.

Notizbuch und Kaffee - mit Schreiben gelingt mir das Leben im Hier und JetztDer Zeitpunkt erscheint mir günstig. Noch nie war so unklar, was sich wie in welche Richtung verändern wird. Noch nie wussten wir so wenig, wie sich die Dinge entwickeln würden. Warum sich also mit Fragen quälen? Warum es nicht jetzt ausprobieren, dieses Leben im Jetzt?

Dieses Jetzt, das nicht weiß, was danach kommen wird. Dieses Jetzt, das keine Ahnung hat, ob die Ordnung danach eine gesunde, nachhaltige sein wird oder ob alles wie gewohnt, wie früher weitergehen wird. Dieses Jetzt, das von künftigen Skandalen unbelastet ist. Dieses Jetzt, dem es egal ist, inwiefern und in welcher Tragweite, zum Guten oder weniger Guten sich unser Leben ändern wird. Dieses Jetzt, das nicht weiß, ob die propagierte, große Chance dieser Zeit genutzt werden wird. Dieses ahnungslose Jetzt, das keine Kenntnis darüber hat, welche Sorgen und Freuden auf uns zukommen.

Ich entscheide mich also, es zu mögen, dieses Jetzt. Dieses unbedarfte Stückchen, das ohnehin stets zu schnell vergeht. Dieses beharrliche Etwas, welches – kaum ist es da – uns schon wieder eingeholt hat. Dieses winzig kleine und doch so große Jetzt, unsere einzige wahre Sicherheit.

Frau schreibt am Laptop - Leben im Hier und JetztIch liege im Bett und schreibe. Noch im Schlafgewand setze ich mich an den Computer. Ich beginne, den Text in Form zu bringen. Ich suche nach der bestmöglichen Formulierung, nach den passendsten, den schönsten Bildern. Die vertraute Vorfreude auf einen fertigen Artikel mit sorgsam ausgesuchten Wörtern, mit wohlüberlegten Sätzen steigt in mir hoch. Mein Gedankenkarussell hört auf sich zu drehen. Meine Zukunftsvisionen versiegen.

Meine Ahnungslosigkeit über alles, was in der Zukunft liegt, tut nichts zur Sache. Alles, was in der Zukunft liegt, tut nichts zur Sache. Alles, was mir widerfahren wird, ist bedeutungslos. Auch meine Vergangenheit tut jetzt nichts zur Sache. Auch alles, was mir bereits widerfahren ist, ist nun bedeutungslos. Jetzt ist der Moment, indem ich schreibe. Jetzt ist der Moment, um den es geht.

Mein Jetzt füllt sich mit Begeisterung. Enthusiastisch haue ich in die Tasten. Wie habe ich dich die ganzen Jahre über vernachlässigt. Wie konnte ich dich betrügen mit dem Vorher und dem Nachher, dem Gestern und dem Morgen. Jetzt erkenne ich, wie wunderbar du sein kannst: du herrliches Stückchen Jetzt.

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4 Kommentare

  1. Liebe Gabi,
    dein Text über das Jetzt hat mir einen wunderbaren Anfang des Tages geschenkt und mich inspiriert: dankbar spüre ich, was ich bin und tun kann… Ich hab deinem Erzählen gedanklich so gut folgen können, weil es mir ähnlich ergeht und weil du so einfühlsam und treffend beschreibst. Danke dir sehr!
    Alles Liebe,
    Georg

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