Meine Freundin, die Angst

Himmel über dem Nebel - Ängste zulassen, Hoffnung schöpfen

Es waren schöne Urlaubstage. Gespickt mit Waldspaziergängen, beraureiften Bäumen und ganzen Tagen, an denen ich keinen Schritt vor die Tür setzen musste. Und dennoch, zur Ruhe gekommen bin ich nicht. Werde ich je wieder zur Ruhe kommen, frage ich mich, in dieser Zeit der Unruhe, die mich nicht einschlafen und zu Unzeiten aufwachen lässt. Die meine Gedanken nicht verstummen lässt, auch wenn ich eine Meditation nach der anderen höre. Die mir den Hals eng macht trotz Bewusstheits- und Atemübungen. Die mir trotz herbeigedachter Zuversicht und vorgetäuschtem Optimismus den ersten Home Schooling-Tag nicht gelingen lässt. Die meine Nerven, die ich dachte gestärkt zu haben, mitsamt der Internet-Verbindung niederbrechen lässt.

Werde ich je zur Ruhe kommen, wenn bereichernde Gespräche und stärkende Sätze nur noch kurz aufatmen lassen und keine Langzeitwirkung mehr haben. Wenn der Druck auf der Brust nicht mehr verschwinden mag, ich positiv denken will und es nicht mehr kann. Wenn mich diese besondere Zeit, von der ich lernen und in der ich wachsen wollte, mich immer wieder zurückwirft in die Startlöcher, auf die Felder Hoffnungslosig- oder Mutlosigkeit.

Bäume im Raureif - Ängste zulassen, Hoffnung schöpfenWerde ich zur Ruhe kommen, wenn ich unaufhörlich Menschen sterben sehe, die gar kein Corona haben, sie geben den Kampf gegen eine andere Krankheit auf, die ihnen anheim wohnt in dieser Phase der Aussichtslosigkeit, der fehlenden Perspektive, dem nicht vorhandenen Halt, der Vereinsamung. Die Vergänglichkeit beschäftigt mich mehr denn je, ich schrecke entsetzt hoch, wenn mich die Nachricht eines Todesfalls aus dem Umfeld ereilt. Es werden immer mehr, die gehen. Gerade habe ich ihn noch gesehen, von der Ferne, einen Menschen aus Fleisch und Blut, spazierend, winkend, sogar ein paar Worte haben wir gewechselt und fünf Tage später gibt es ihn nicht mehr. Er hat seinen Geist ausgehaucht, nie mehr wird er spazieren, winken und auf seine Weise reden. Auch wenn das Alter fortgeschritten, der Tod zu erwarten war, so wie er immer zu erwarten ist, braust er mit überdimensionaler Geschwindigkeit so brachial hernieder, dass ich zusammenfahre und erschrocken liegen bleibe.

In all diesem Wirrwarr taucht sie immer wieder auf. Sie, die ich verleugnen wollte, wegatmen, zu Tode meditieren. Jetzt macht sie sich mehr und mehr bemerkbar, wie eine Klette weicht sie nicht von meiner Seite. Etwas zu aufdringlich scheint sie mir, aber ich bin zu matt, um sie zurückzuweisen. Langsam schleicht sie sich in meinen Hals, verwandelt meine Stimme in ein schwaches Krächzen, verschließt mein Herz und legt sich als schwerer Stein auf meinen Brustkorb.

Ich schäme mich ihrer Gegenwart. Ich verstecke sie gut vor fremden Blicken. Ich, die ich von Existenzsorgen bis jetzt verschont geblieben bin, die ich keinen allzu nahestehenden Menschen zu betrauern habe, fühle mich nicht berechtigt, ihr Heimat zu gewähren.

Aber sie gibt nicht auf. Mich hat sie sich ausgesucht, genau hier will sie wohnen, gibt sie mir klar zu verstehen. Kleinlaut fange ich an von ihrer Existenz zu erzählen. In mir wohnt die Angst, sage ich allen, die es hören mögen. All diese Unsicherheit, die uns umgibt, all die Ängste, die herrschen, suchen zielstrebig Wege, um in mich zu gelangen, sich in mir festzusetzen. Ich spüre Trauer um so viele, die so plötzlich nicht mehr sind, um die, die viel zu schnell gehen mussten, die sich nicht verabschieden konnten, die allein gelassen wurden, die „es“ sich anders vorgestellt hatten. Ich bin nicht die Ruhige, Besonnene, die ich gerne wäre, stets versuchend andere aufzurichten. Ich bin die Ängstliche, die Betrübte, die schutzsuchend am Boden kauert und die Arme um ihre Beine schlingt.

Sonnenlicht im Schnee - Ängste zulassen, Hoffnung schöpfenEs beginnt zu schneien. Tausende Schneeflocken fallen vom Himmel. Übermütig wirbeln sie durch die Luft. Verspielt bahnen sie sich ihren Weg, nehmen sich freizügig Zeit, bevor sie schlussendlich ihren besonderen Platz einnehmen auf dem weißen weichen Teppich, der jede einzelne unendlich sanft auffängt.

Ich renne, renne einfach los, hinein in den Schnee. Ich renne und schreie. Meine heisere Stimme scheint sich aufzuhellen. Ich reiße meine Arme in die Luft und ein Hauch von Leichtigkeit streift meinen Brustkorb. Mitten im Schneegestöber blinzelt plötzlich die Sonne hindurch. Auch wenn ich sie im Moment nicht spüren kann, weiß ich, dass sie da ist, meine Freundin, die Angst, während mir die in Watte gepackte Welt väterlich entgegen lächelt.

Da weiß ich, dass sie alle in mir Platz haben. Die Angst und die Niedergeschlagenheit, die Mutlosigkeit, die Melancholie. Es ist viel einfacher, sie wie Mutter Erde ganz selbstverständlich aufzunehmen, so wie jede Witterung von Mutter Erde ganz selbstverständlich aufgenommen wird. Ich verspüre eine seltene Ruhe und die nötige Kraft, die ich brauchen werde, um sie durch die Zeit zu tragen. Ich weiß, dass ich mit ihnen gehen werde in die neue Welt, in der jetzt schon das Sonnenlicht durchblinzelt. In die Welt, in der wir uns nicht befangen gegenüberstehen und verlegen Ellbögen aneinander stoßen, sondern hemmungslos in die Arme fallen. In der Schulden getilgt, Berufsbilder kreiert und jeder genau dort ankommt, wo er so erfüllt ist, dass Aggression und Hass vom Erdboden verschluckt werden. In der alle Toten auferstanden sind und erlöst vom Leiden so befreit und herzhaft lachen, wie schon lange nicht. In der Steine auf Brustkörben plötzlich leicht wie Vogelfedern sind.

In der Ängste ihren Platz haben, weil ihnen gewiss ist, dass die Erde uns auch in schweren Zeiten trägt – und dass sich Herzen immer wieder aufs Neue öffnen.

 

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4 Kommentare

  1. Liebe Gabi,
    danke für deine Offenheit im Beschreiben deiner Gefühle.
    Es ist so menschlich, das zu wollen, was uns gut tut – und dennoch erleben wir – ohne es zu wollen, was uns beengt und niederdrückt…

    Es wohnt in aller Menschlichkeit ein Geheimnis, das uns hoffen lässt: du beschreibst es so schön mit dem Bild der Mutter (Erde), die alles aufnimmt und umfängt … und dadurch Heil(ung) ermöglicht.
    Danke dir, Gabi!
    Gott segne dich in all deinen Gefühlen mit dieser mütterlichen Liebe!

  2. Liebe Gabi, so schön, dass du dich traust so ehrlich darüber zu schreiben, was viele unbewusst fühlen, aber vielleicht nicht zulassen. Du bist hier ein Sprachrohr für viele, und ich hoffe es motiviert den einen oder anderen, sich auch diesen Gefühlen hinzugeben und diese so zu heilen.
    Dein Blog wird immer schöner! 😘

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