In einer Phase des Mitgefühls denke ich über die Gnade des Fühlens nach und bemerke: Unsere Gefühle sind wertvolle Schätze – und zwar alle.
Da begegnet er mir wieder, der Tod. Die Mutter einer Bekannten, sie starb recht plötzlich. Obwohl ich die Verstorbene nie kennenlernen und die Bekanntschaft ihrer Tochter erst vor ein paar Tagen machen durfte, kann ich nicht anders, als ständig an sie zu denken. Wie ergeht es ihr, welche Gefühlsregungen macht sie durch? Ist sie geschockt, verzweifelt, ohnmächtig? Fühlt sie sich allein gelassen, ist sie entsetzt oder einfach nur traurig?
Es entsteht ein wundervoller Austausch. Ich kann nichts Kluges sagen, nichts Weltbewegendes beitragen in dieser schmerzlichen Phase, durch die wohl jeder Mensch im Laufe seines Lebens hindurch muss. Ich kann nur mitfühlen. Und während dieses Prozesses des Mitfühlens, der sich zu einer ungeahnten Intensität auswächst, sich in meine Träume schleicht, erbarmungslos in den Vordergrund drängt, mich am Morgen weckt und abends in den Schlaf wiegt, stellt sich in mir ein warmes, weiches, wunderbares Gefühl der Verbundenheit ein. Das, was meine liebe Bekannte empfindet, deckt sich mit dem, was ich empfand, als meine Mutter starb. Das, was in ihr vorgeht, war damals auch in mir. Und so entsteht aus einer kurzen Bekanntschaft ein inniges Band.
Gefühle begleiten uns durch unser ganzes Leben. Tag für Tag fühlen wir etwas. Angenehmes, Unangenehmes, Schweres, Leichtes, Feiges, Starkes, Dankbares, Stolzes, Leidenschaftliches, Aufgeregtes, Vorsichtiges, Faszinierendes – große und kleine Gefühle machen sich permanent in uns breit. Was durfte ich bereits spüren an kindlichen Freuden, an jugendlicher Ausgelassenheit, an erster Verliebtheit, herrlicher Unbekümmertheit, an verwirrender Aufgewühltheit, an verzagender Hoffnungslosigkeit, großen Ängsten, an Alltagsproblemen, die schier unüberwindbar schienen, an tiefer Trauer. Und auch wenn mir manche dieser Gefühlsregungen schwer zu durchqueren schienen, sind sie mir heute förderlich und machen sie mich ganz. Die Gefühle zu kennen, sie durchfühlt zu haben, macht mich nicht sprachlos und lässt mich die Scheu verlieren, mich einzubringen. Ich darf mitfühlen und darf mich verbunden fühlen auch mit Menschen, mit denen es möglicherweise sonst keinerlei Verbindung mehr gäbe.
Und so wird mir klar, dass wir jedes Gefühl fühlen dürfen, ja müssen, voller Inbrunst und Intensität. Die guten und die schlechten Gefühle, die schönen und die weniger schönen. Denn jedes dieser Gefühle wird zu einem Teil von uns. Einem unabdingbaren Teil, der uns in andere Lagen versetzen, Verständnis zeigen und Dinge nachempfinden lassen kann. Der uns eine andere Sicht auf Dinge geben kann, in denen wir möglicherweise allzu eingefahrene Meinungen hatten.
Durch Gefühle hindurch gehen kann ein ekstatischer, aber auch ein furchtbarer Prozess sein. Jedoch ist das Hindurchgehen die einzige gesunde Möglichkeit und die einzige Chance, uns reifen zu lassen. Deshalb dürfen wir jedes Gefühl fühlen und müssen es nicht verdrängen und beiseite legen. Wir dürfen jedes noch so ungute Gefühl ansehen und wir dürfen es annehmen und liebevoll willkommen heißen. Es darf hier sein, es gehört zu uns. Klammheimlich wird es sich in Wohlgefallen auflösen, wenn wir nicht dagegen ankämpfen. Klammheimlich wird es plötzlich verschwunden sein, wenn wir nicht mehr daran denken.
So wie die Trauer über den Tod meiner Eltern einem warmen, weichen Mitgefühl weichen durfte, so werden alle meine Gefühle in etwas Wohliges eintauchen, wenn ich sie durchlebe. Wenn ich sie als Teil von mir anerkenne und nicht abschiebe, als etwas Störendes, Ungewolltes, können sich auch sogenannte „schlechte“ Gefühle günstig in mir auswirken. Können auch unangenehme Gefühle meinen Horizont erweitern und mein Herz weit machen.
So weit, dass aus einer kurzen, leichten Bekanntschaft im Handumdrehen etwas Großes, etwas Einzigartiges entstehen kann.